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Das ist unser Haus

Militärpanzer rollen im März 1980 meterhohe Barrikaden der Amsterdamer Kraker im Vondelviertel nieder. Diese Bilder lassen ein Jahr darauf die Emotionen in der Nürnberger Besetzungsszene hochkochen.

Foto: Rob Bogaerts, Quelle: Nationaal Archiv, CCO 1.0

Gespräche mit Zeitzeug*innen: Max

Durch gewaltsame Enteignung die Systemfrage praktisch gemacht

Bis heute ist Max Mitglied einer autonomen Gruppe, die 1980 in Nürnberg im Rahmen der Hausbesetzungsbewegung entstand.

Max: Die Prolos entstanden in der Hausbesetzerbewegung Anfang 1980. Damals hat sich ein loser Haufen von Jugendlichen gebildet. Wir kamen teilweise aus der Trabantenstadt Langwasser, zum Teil waren wir aus dem Berufsgrundschuljahr Bau. Getroffen haben wir uns auch im selbstverwalteten Jugendzentrum KOMM. Bei uns allen herrschte ein latenter Unmut mit den herrschenden Verhältnissen. Das hat sich teilweise politisch ausgedrückt in „Stoppt-Strauß“-Kampagnen oder "Atomkraft - Nein danke" und ähnlichen Slogans.

Inspiriert waren wir natürlich Anfang der 1980er Jahre durch die anwachsende autonome Hausbe­setzerbewegung. Da kam dann bei uns die Idee auf, unsere keimende Systemkritik auch mal in praktische Form zu gießen. Es hatte für uns im ersten Moment eine ungeheuerliche Dimension, als die Idee mit dieser Hausbesetzung aufkam. Die Hausbesetzer in Berlin waren ja aus unserer Sicht alte Leute, die schon mindestens über zwanzig waren. Wir dagegen waren ja alle noch Teens.

Die Idee hat sich dann konkretisiert und wir haben ein Haus gesucht und auch gefunden, das sich für eine Besetzung eignen würde: die Johannisstraße 70 in Nürnberg. Dabei war ein wichtiger Aspekt, uns Freiräume zu schaffen, in denen wir selbstbestimmt leben konnten: weg von den Alten, Räume ohne Konsumzwang, Zusammenleben mit Gleichgesinnten. Und Weihnachten 1980 hat man dann eben auch das erste Haus besetzt. Für mich war die Besetzung der Johannisstraße der Auftakt für eine relativ kurze, aber sehr intensive Zeit des politischen Aktionismus. Es wurde ja nicht nur die Johannisstraße besetzt, sondern auch verschiedene andere Häuser.

Wie war denn die Reaktion bei den Jugendlichen und der Gesellschaft in der damaligen Zeit auf eure Hausbesetzung?

Max: Es ist schon auf Interesse gestoßen. Wir waren ja am Anfang eine relativ kleine Gruppe, die diese Hausbesetzung initiiert hat. Aber dann sind über dieses besetzte Haus sehr schnell Leute dazugekommen, sehr viele Jugendliche und ein paar junge Erwachsene. Es gab auch relativ viel Austausch mit der Nachbarschaft, die das unterstützt hat. Wir haben daher Möbel, Essen, Matratzen, alles Mögliche bekommen. Gerade in der Johannisstraße hat die Bevölkerung sehr gut reagiert. Unsere Besetzung diente natürlich auch als Beispiel. Letztendlich wurden dann der Reihe nach in Nürnberg sieben Häuser aus unterschiedlicher Motivation besetzt. Die Johannisstraße war nicht das einzige Haus. Und mit der Räumung war es auch nicht zu Ende.

Wie kam es denn dann zu den weiteren Hausbesetzungen in Nürnberg? Haben sich spontan ganz andere Gruppen herausgebildet, die das gemacht haben? Oder war es letztendlich trotzdem diese Kerngruppe, die von Anfang an die erste Hausbesetzung initiiert hatte?

Max: Die anderen Hausbesetzungen waren völlig unterschiedlich motiviert. Nachdem die Johannisstraße 70 geräumt wurde, haben wir gleich ein paar Häuser weiter ein anderes Haus in der Johannisstraße besetzt. Das war noch von der ursprünglichen Kerngruppe mit initiiert als direkte Reaktion. Dann gab es die Besetzung der Veillodterstraße durch ein schon bestehendes, anderes Kollektiv. Die Motivation war, den Bestand des Hauses zu erhalten, das abgerissen werden sollte. Und dann gab es – vielleicht eher am Rande - auch noch einige kleine abenteuerliche Aktionen von Leuten. Also es waren unterschiedliche Motivationen, die zu den Besetzungen führten.

Diese Aktivitäten fanden ein abruptes Ende durch die Nürnberger Massenverhaftungen im KOMM am 5. März 1981. Wie kam es dazu?

Max: Vorausgegangen waren den Verhaftungen eine Veranstaltung der „Prolos“ zusammen mit der Medienwerkstatt Franken. Wir haben da einen sehr inspirierenden Film gezeigt über die militante Verteidigung der Häuser in den Niederlanden durch die Kraaker [niederl. Hausbesetzer]. Nach der Veranstaltung gab es eine Demo. Da kam es zu einem bisschen Theater und Sachschaden.

Das haben die Bullen dann benutzt, die Menschen, die sie dem Täter*innenkreis zugeordnet haben, aus dem KOMM heraus zu verhaften und auf Grundlage von hektografierten Haftbefehlen in die Justizvollzugsanstalten zu verteilen. Es gab einen relativ großen Aufschrei der damals noch existierenden aufgeklärten Öffentlichkeit über diese Rechtsbeugung. Wir als „Prolos“ konnten aufgrund unserer Jugend jedoch leider diesen Elfmeter für uns nicht politisch verwandeln. Andere Akteure haben dann abgesahnt.

Häuser wurden nach dem 5. März ja erst mal nicht mehr besetzt. Gab es denn trotzdem Erfolge der Bewegung?

Max: Es gelang uns nach der Räumung der Johannistraße 70 zu erreichen, dass Verhandlungen zwischen dem Olaf-Ritzmann-Kollektiv und der Stadt geführt wurden, um dieser ein Haus abzutrotzen, in dem ein kollektives Wohn- und Arbeitsprojekt entstehen sollte. Das Ziel war ein selbstbestimmtes Leben.

Olaf Ritzmann war auf einer Anti-Strauß-Aktion in Hamburg vor die einfahrende S-Bahn gestoßen worden. Im Andenken an dieses Opfer staatlicher Gewalt hat sich das Besetzerkollektiv nach ihm benannt. Das Olaf-Ritzmann-Kollektiv gibt es heute auch noch. Allerdings hat sich alles ein bisschen verändert im Vergleich zum Ursprungsgedanken. Es ist eben doch Ursprungsgedanken. Es ist eben doch nicht so einfach, das richtige Leben im falschen aufrechtzuerhalten.

Es waren ja auch die ersten politischen Gehversuche sehr junger Leute, die ihr damals wart.

Max: Ja. Die Unerfahrenheit, die wir damals noch hatten, zeigt sich auch in folgender kleiner Anekdote: Als wir da am Heiligen Abend 1980 an diesem Haus in der Johannisstraße ankamen, das wir besetzen wollten, da fanden wir das dann, oh Wunder, total verschlossen. Ja, was sollten wir jetzt tun? Da haben wir dann kurz debattiert. Na ja, also so in ein Haus reinzugehen, einzubrechen, das ist halt Hausfriedensbruch. Das ist natürlich dann Einbruch und Sachbeschädigung. Also natürlich ein bisschen eine andere Nummer strafmäßig. Und dann haben wir aber letztendlich beschlossen: OK, treten wir einfach auf der Rückseite des Gebäudes ein Fenster ein. Einbruchswerkzeug hatten wir auch nicht dabei. Daran hat auch niemand gedacht im ersten Moment. Das ist der Grund, warum dann unter den Eingeweihten im Nachhinein eine Zeitlang der Spruch kursierte: "Und vergesst die Brechstange nicht." Und das ist auch der Grund, warum unser „Prolos“-Emblem bis heute noch eine vermummte Gestalt mit einer Brechstange zeigt. Also wir haben dazugelernt.

Wir waren jung, radikal, haben die Staatsmacht herausgefordert. Den Kampf haben wir bisher leider noch nicht ganz gewonnen, aber jedenfalls haben wir nach wie vor jede Menge Spaß dabei. Und für mich persönlich war das dann auch der Auftakt zu einem langen politischen Leben, das jetzt auch seit 43 Jahren andauert.

Es waren zwei, drei Monate, die dein Leben vermutlich sehr geprägt haben. Was ist über vierzig Jahre später, noch da, von diesen intensiven Zeiten? In Deiner Lebenshaltung oder Weltanschauung?

Max: Die Hausbesetzungsbewegung hatte nur eine relativ kurze Zeit des politischem Aktivismus hier in Nürnberg. Wir haben uns die Frage gestellt, warum es uns nicht gelungen ist, sie dauerhaft zur materiellen Gewalt werden zu lassen. Das haben wir für unsere Gruppe analysiert und gemerkt, dass es zum einen die relative Unerfahrenheit von uns noch sehr jungen Protagonisten war. Aus dieser resultierte natürlich eine starke inhaltliche Schwäche. Die konnten wir selbst mit unserem überbordenden Aktionismus auf Dauer nicht wettmachen.

Der zweite Punkt war eine fehlende Organisierung. Das war ein Problem, das die Bewegung hatte. Wir konnten all die Leute, die wir aktiviert hatten, auf Dauer nicht fassen oder organisieren. Diese Defizite haben wir dann schon erkannt und wir machten uns in der Folgezeit als Gruppe daran, die Schwachpunkte zu bekämpfen. Wir sahen die Notwendigkeit, uns erst mal politisch und ideologisch ein bisschen auszubilden. Das war für uns als proletarische Jugendliche, als die wir Intellektuellen eher ablehnend gegenüberstanden, schon ein ganz schön großer Schritt. Das versuchen wir bis heute noch: an der Theoriefindung der Linken mitzuwirken. Zum Zweiten haben wir auch versucht, an der Organisierung der Linken zu arbeiten. Das ist ein Punkt, der bis heute sehr unbefriedigend ist und aus dem auch die derzeitige Schwäche der Linken resultiert.

Du betonst, dass ihr jung und unerfahren wart. Gab es denn ein Verhältnis zur organisierten Linken der damaligen Zeit? Und wenn ja, wie hat da die Zusammenarbeit ausgesehen?

Max: Es gab zu Anfang überhaupt keine Querverbindungen. Als Teil der autonomen Bewegung waren wir im Prinzip geschichtlich relativ losgelöst, auch durch unsere Jugend. Wir haben schon versucht zur 68er-Linken Kontakt zu kriegen. Die hatte sich aber damals schon in die K-Grüppchen aufgespalten und zerfleddert. Wir haben kaum Unterstützung von einer organisierten Linken bekommen. Kurze Zeit hat mal die DKP versucht, Einfluss zu nehmen. Da waren aber wir nicht begeistert, weil sie uns sehr paternalistisch gegenüber aufgetreten sind. Da kam von uns eher Abwehr. Wir haben als Autonome eigentlich wirklich ganz von vorne angefangen.

Bei der Wohnungsfrage unterscheidet sich die Situation heute kaum von der damaligen. Wie siehst du – auch im Vergleich zu den vergangenen Kämpfen - die aktuellen wohnungspolitischen Kämpfe?

Max: Die Hausbesetzerbewegung in den 1980er Jahren war in weiten Teilen eine militante und auch systemantagonistische Bewegung, die weit über den Kontext der Wohnungsfrage hinausging. Die Forderungen der heutigen Aktivisten wenden sich größtenteils an die herrschende Klasse, an den Staat, an die Politik, doch irgendwie regulierend einzugreifen, um das Los der unteren Klassen zu verbessern. Es gibt natürlich auch heute militante Formen des Widerstands, wie beispielsweise den der „Letzten Generation“. Aber auch deren Forderungen sind teilweise ziemlich schlicht. Ein Neun-Euro-Ticket für den öffentlichen Nahverkehr, Geschwindigkeitsbegrenzungen, all das bleibt letztlich innerhalb der Systemlogik und weist kaum darüber hinaus.

Die herrschende Klasse versucht ihre Aktionsformen zwar als Ökoterrorismus zu kriminalisieren, oder tituliert sie als grüne RAF. Im neuesten Repressionsfall hier in Nürnberg kriegen Antifas wegen Sprühaktionen ein §129a-Verfahren und die Aktion wird zu einem kriminellen Akt hochstilisiert.

Aber ich glaube, der Unterschied ist schon ziemlich klar im Vergleich zu einer RAF, einer Bewegung 2. Juni, den Revolutionären oder den Autonomen. Die Protestbewegung der 1980er Jahre stellte nicht nur die wesentliche Eigentumsfrage, sie erkannte auch die Sy­stem­re­le­vanz hinter dieser. Die Eigentumsfrage - Eigentum an Produktionsmitteln, Wohnraum oder Infrastruktur - führt automatisch zur Systemfrage. Daraus ergibt sich, dass die Probleme für die unteren Klassen innerhalb des Kapitalismus nicht befriedigend gelöst werden können.

Denn der Kapitalismus teilt die Gesellschaft ja in die, die die Produktionsmittel haben, und die, die nichts zu verkaufen haben, außer ihrer Arbeitskraft. Angesichts dieser Tatsache erscheint es also relativ sinnlos, die herrschende Klasse zu bitten, ihre eigene Existenzgrundlage zu negieren.

Was würdest du von den linken Bewegungen fordern?

Max: Kämpfe um Reformen sind natürlich wichtig, weil sie erst mal die Lebensgrundlage der arbeitenden Klasse real verbessern. Aber dabei darf man nicht stehenbleiben oder die Illusion nähren, dass das die Lösung wäre. Die Hausbesetzerbewegung machte durch gewaltsame Enteignung eben genau die Systemfrage praktisch, stellte mit der Eigentumsfrage auch die Macht­fra­ge. Auf diese grundlegende Idee kommen eben große Teile der Linken heute leider nicht mehr.

Ein weiteres Problem ist, dass es das, was man das linksliberale Bürgertum oder die aufgeklärte Öffentlichkeit nennt, die sich früher bei der Nürnberger Massenverhaftung noch empören konnte, heute leider kaum mehr gibt. Dieses Segment ist längst in das Lager der Systemunterstützer übergelaufen. Leute, die fälschlicherweise als links bezeichnet werden, postulieren heute neoliberale Ideologien oder übernehmen un­hin­ter­fragt staatstragende Narrative im Namen von Men­schen­rechten und Feminismus. Mit denen werden mit­tlerweile Kriege und andere imperialistische Ge­walt­akte gerechtfertigt.

Damit hat die ehemalige Linke sich aber auch zum guten Teil aus der inhaltlichen Hegemonie verabschiedet. Die Hegemonie haben heute Neoliberale, von Grünen bis AfD. Dabei gelingt es der AfD noch am besten, Teil des Mainstreams zu sein und sich als Opposition zu gerieren. Die herrschende Klasse und ihre Systemmedien haben sich weitgehend diskreditiert. Viele Menschen sehen sich in dem derzeitigen politischen System in keiner Weise mehr repräsentiert und wenden sich entweder frustriert von der Politik ab oder den Rechtspopulisten zu.

Aber Systemkritik darf nicht den Rechten überlassen werden. Große Teile der Bevölkerung dürsten heute regelrecht nach klaren politischen Aussagen. Und was heute nottut, ist wirklich, radikale linke Opposition zu machen und den Kampf um die Köpfe an der Basis wieder aufzunehmen. In den Betrieben, im Freundeskreis, auf Partys, an der Uni, in der Schule, im Verein. Und wir müssen wie die Hausbesetzerbewegung oder die Friedensbewegung oder die Anti-Atomkraftbewegung heute wieder praktische Beispiele geben, dass Widerstand möglich ist.

Dieser Kampf muss aus einem konsequenten klassenkämpferischen, anti-imperialistischen Bewusstsein heraus geführt werden. Denn das ist die inhaltliche Klammer, mit der man auch diese Kämpfe korrekt führen kann. Und wenn uns heute auch der Wind scharf ins Gesicht weht und die Kriegstreiber und Waffennarren noch so giftig geifern, wir müssen nach wie vor konsequent linke Inhalte vertreten und das System von Krieg, Ausbeutung und Unterdrückung auf allen Ebenen benennen und angreifen.

Nur durch mutige und klare Worte kann man Respekt ernten und überzeugen. Gelegenheit dazu gibt es genug. Denn die Revolution ist großartig und alles andere ist Quark.