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Das ist unser Haus

Kraaker: Hinter den Barrikaden rund um die besetzten Häuser der Amsterdamer Vondelstraat im März 1980


Foto: Rob Bogaerts, Nationaal Archief

Einleitung

1980/81 revoltierte die Jugend. Zürich, Am­ster­dam, Berlin waren Zentren der Bewegung (Härlin 1981). Eine Jugendrevolte tobte und fand ihren Ausdruck unter anderem in Hausbesetzungen. Mensch ging auf die Straße und forderte ein selbstbestimmtes Leben, Freiräume, Au­to­nomie, jetzt, hier und heute. Es gab Stra­ßen­schlach­ten in Berlin und Zürich. In Amsterdam wurden Räumpanzer gegen die Besetzer*innen und ihre meterhohen Barrikaden eingesetzt. Es war eine Zeit der Utopien und des Zorns.

Auch in Nürnberg war einiges los. Die Frankenmetropole war damals Regierungsbereich des berühmt-berüchtigten CSU-Vorsitzenden Franz-Josef Strauß (Roth et al. 1972), der 1980 als Kanzlerkandidat zum (letztlich gescheiterten) Sprung nach Bonn ansetzte. Die damalige Anti-Strauß-Bewegung zitiert ihn mit den Worten: „Ich bin Deutschnationaler und fordere bedingungslosen Ge­hor­sam. Ich will lieber ein kalter Krieger sein als ein warmer Bruder“. Bedingungslos gehorsam waren die Jugendlichen in Nürnberg nicht. Sie revoltierten gegen eine verfehlte Stadtplanung, Wohnungs­not und Spekulationsprofite der Im­mo­bi­li­en­händ­ler. Die Nürn­ber­ger Mas­sen­ver­haf­tung von 141 Menschen im selbst­ver­walteten Jugendzentrum KOMM am 5. März 1981 (Glaser 1981) waren die Antwort des Staates. Der Skandal macht­e Schlag­zeilen in ganz Deutschland.

Wie kommen wir rund 45 Jahre später dazu, über diese Ereignisse noch einmal nachzudenken und sie zu dokumentieren? In bisherigen Darstellungen der Geschichte des Nürnberger Kommunikationszentrums wurde die linksradikale Hegemonie in seinen Selbstverwaltungsstrukturen und die vielfältigen (zumindest dem Anspruch nach) staatsgefährdenden Aktionen, die von ihm ausgingen kaum erwähnt, unterschlagen, verschwiegen. Regelmäßiges Thema von Veröffentlichungen ist die Massenverhaftung, nicht jedoch die Revolte und ihre Ziele, die sie unterdrücken sollte. Wir gelangten zu der bitteren, aber wichtigen Erkenntnis: Die Geschichte wird von den Sieger*innen geschrieben und wer nicht vergessen werden will, muss seine/ihre Geschichte bzw. Geschichtsschreibung selbst in die Hand nehmen.

Das tun wir hiermit – und beginnen bei den Hausbesetzungen in Nürnberg Anfang der 1980er Jahre. Dies hat auch biographische Gründe: Von den vier Verfasser*innen dieser Broschüre waren zwei „unmittelbar dabei“ – die anderen beiden regional bzw. generationell „nicht weit weg“ davon. Wir haben die Ereignisse als Zeitzeug*innen intensiv erlebt; sie waren ein Meilenstein unserer politischen Sozialisation. Die damaligen Auseinandersetzungen haben Kollektivitäten geschaffen, die bis heute existieren, ein „Wir“ gegen „Die“, Freundschaften, die jahrzehntelang ge­hal­ten haben und Solidaritäten, auf die mensch sich trotz aller Widersprüche im Kern verlassen kann. Die Theorie sozialer Bewegungen und auch die Geschichte der Arbeiterbewegung kennt das Phänomen gut, dass zugespitzte Konfliktereignisse, etwa Streiks, zur Herausbildung einer ausgeprägten kollektiven Identität führen. Solche ‚Gründungskonflikte‘ stehen z.B. am Beginn von Ge­werk­schaftsorganisationen oder auch der Einführung von Betriebsräten. In ähnlicher Weise können die Nürnberger Hausbesetzungen und die darauf folgenden Massenverhaftungen als Schlüsselereignisse für die Formierung neuer linksradikaler Strukturen in der Nürnberger Region gelten - die nicht zufällig über einen langen Zeitraum ihre zentrale Operationsbasis im KOMM hatten. Es ist die Rede von den sogenannten „autonomen Gruppen“.

Dabei handelt es sich bei den Nürnberger Ereignissen freilich nur um die regionale Variante einer Entwicklung, die zeitgleich bundesweit, ja europaweit erfolgte. Ihre Vorläufer sind bereits Ende der 1960er und in den 1970er Jahren überall dort auszumachen, wo von den „neuen sozialen Bewegungen“ und einer „antiautoritären Linken“ die Rede ist. Vor allem in Italien und Frankreich wurde die traditionelle marxistische und z.T. stalinistische Linke von v.a. jugendlichen Bewegungen kritisiert und herausgefordert (Moroni/Balestrini 1994). Neue Aktions- und Organisierungsformen kamen auf. In der ersten Hälfte der 1970er Jahre waren „zentrale Themen und Gegenstände linksradikaler Protestaktivitäten (…) die Schul- und Universitätsreform, diverse Betriebs- und Häuserkämpfe, un­ter­schied­li­che Formen der Frau­en­dis­kri­mi­nie­rung sowie antiimperialistisch mo­ti­vier­te Internationalismuskampagen“ (Haunss 2008, S.. 450).

„Als Bewegung sichtbar wurden die Autonomen erstmals Mitte der 1970er Jahre als militanter Flügel der sich entwickelnden Anti-AKW-Bewegung“ (ebd., S. 451).

Dieser erste Zyklus antiautoritärer linksradikaler Kämpfe, in dessen Herz auch Gruppen des bewaffneten Kampfes wie die Rote Armee Fraktion (RAF) und die Revolutionä­ren Zellen (RZ) agierten, wurde in Deutschland jäh unterbrochen und gelähmt durch die massive staatliche Re­pres­sionswelle im Zuge der Entführung des ehemaligen SS-Offiziers und Arbeitsgeberverbandspräsidenten Hanns-Martin Schleyer durch die RAF im „Deutschen Herbst“ 1977. Er endete mit dem Tod von Hanns-Martin Schleyer und vier RAF-Gefangener im Hochsicherheitsgefängnis Stuttgart-Stammheim. Danach war Totenstille in der Republik. Schockstarre. Viele ehemalige Studentenbewegte, Köpfe und Militante der antiautoritären Bewegung distanzierten sich fortan von jeglicher militant wirkender Strömung des Linksextremismus. Zahlreiche kommunistische, maoistische und leninistische Gruppen lösten sich auf. Stattdessen wurden die Tageszeitung „Taz“ und die grüne Partei gegründet. Die Rückkehr zum bürgerlichen Parlamentarismus und der Aufbau von Alternativprojekten standen auf der Tagesordnung.

Die neue Welle der Hausbesetzungen Anfang der 1980er Jahre war kaum belastet von dieser schweren Geschichte. Sie wurde überwiegend von einer neuen Generation sehr junger Aktivist*innen getragen, die wenig Ahnung hatten von Marxismus und Klassenkampf, aber ganz konkrete Vorstellungen von einem besseren Leben jenseits von Unterdrückung und Ausbeutung. Sie machten eine Politik „in erster Person“, also nicht vor allem für andere, sondern für sich selbst, um ihre Bedürfnisse nach Unabhängigkeit, Autonomie, Selbstbefreiung umzusetzen; nicht irgendwann morgen nach der Revolution, sondern sofort und unmittelbar. Hausbesetzungen waren daher sowohl politische Kämpfe gegen Mietwucher und soziale Ungleichheit, gegen profitorientierte Spekulation mit Wohnraum – aber zugleich auch die praktische Schaffung von Freiräumen, in denen Utopien von einem kollektiven selbstbestimmten Leben gelebt werden konnten. Die Hausbesetzer*innen eigneten sich das, was dafür nötig war, einfach kurzentschlossen und direkt an. Es war für sie legitim, die leerstehenden Häuser zu nutzen, um darin zu wohnen und ihre Träume umzusetzen - jenseits existierender politischer Vermittlungsformen und Organisationen sowie unter bewusster Missachtung bestehender Herrschafts- und v..a. Eigentumsverhältnisse: „Das ist unser Haus“.

Die vorliegende Broschüre basiert im Wesentlichen auf einer Veranstaltung am 1.12.2023 im Nachbarschaftshaus Gostenhof in Nürnberg, die wir als „Arbeitskreis Erneuerbare Gesellschaft“, unterstützt durch die Medienwerkstatt Franken mit einen einleitenden Film, durchgeführt haben. Weitere Unterstützung erhielten wir von der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Zahlreiches Bildmaterial für dieses Heft steuerte unter anderem das Umbruch-Bildarchiv bei.

Für die Veranstaltung konnten wir auf wichtige Vorarbeiten zurückgreifen: In der Reihe „Zwischenfälle“ war im Nürnberger Freien Radio Z bereits im Februar 2022 die Sendung „Unser Haus – Die Hausbesetzungsbewegung 1980/81“ von Michael Liebler und Nadja Bennewitz ausgestrahlt worden. Dafür hatte Michael Liebler frühere Quellen ausgewertet, zahlreiche Zeitzeug*innen befragt und die lokalen Auseinandersetzungen sowie den zeit­ge­schicht­lichen Hintergrund recherchiert. Ein Kapitel dieser Dokumentation, die das radikale Lebensgefühl von Ju­gend­li­chen der 1980er Jahre für die Hörer*innen lebendig macht, geben wir gekürzt am Anfang der Broschüre wieder.

Ergebnisse seiner Arbeit teilte in der Sendung der Squatter-Forscher Armin Kuhn, der bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung als Experte zuständig ist für den Bereich Stadtentwicklung und Wohnungspolitik. Seit über 15 Jahren ist er politischer Aktivist zu diesen Themen, und war auch Referent auf der genannten Veranstaltung im Dezember 2023. Er half uns, die Nürnberger Ereignisse als Reaktionen auf eine „for­dis­ti­sche Stadtpolitik“ in die historische und in­ter­na­tio­na­le Entwicklung von politischen Häuserkämpfen einzuordnen (Kuhn 2014).

Auf dem Podium präsent waren auch zwei Zeitzeug*innen, die von ihren eigenen Erlebnissen während der Nürnberger Hausbesetzungen und Massenverhaftung erzählten. Wir haben ihre Beiträge mitgeschnitten, transkribiert und mit ihrer Hilfe redaktionell bearbeitet. Ergänzt werden ihre Erzählungen von einem dritten Inter­view mit einer Zeitzeugin, das von Michael Liebler für sein Radio-Feature geführt wurde. Der Fürther Historiker Siegfried Imholz teilte freundlicherweise sein Wissen über Besetzungen, die sich 1981 gegen Leerstand in der Nachbarstadt richteten.

Abgerundet wird die Broschüre durch den (erneut durch den Vortrag von Armin Kuhn angeleiteten) Versuch, die damaligen Ereignisse auf aktuelle Auseinandersetzungen zum Thema Wohnen und Stadtpolitik zu beziehen. Denn das ist ja auch der Sinn des ganzen Un­ter­fang­ens: Aus der Geschichte lernen, aus der Praxis für die Praxis.

Viel Spaß beim Lesen und Nachmachen wünscht

das Autor*innenkollektiv